Wunsch - Traum - Fluch by Verlag Freies Geistesleben

Wunsch - Traum - Fluch by Verlag Freies Geistesleben

Autor:Verlag Freies Geistesleben
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Freies Geistesleben
veröffentlicht: 2013-07-15T00:00:00+00:00


Ryan war es egal, ob seine Eltern die Haustür zuschlagen hörten. Die Abendluft war kühl, und er atmete kleine, geisterhafte Atemwölkchen aus, als er in Laufschritt verfiel. Er fühlte sich klar und leicht, als ob ihn jemand mit eiskaltem Wasser durchgespült hätte. Seine Hände zitterten, und er hatte keine Ahnung, was er tun würde, aber irgendwo da draußen war Chelle und rang nach Luft.

Er rannte vier Straßen weit, bis er die Lichter des Krankenhauses sah. Erleichterung machte sich in ihm breit. Aber wie bei vielen hohen Gebäuden schien das Krankenhaus auf den ersten Blick näher zu sein, als es in Wirklichkeit war. Bis das grellbunte Schild des Discountladens neben der Klinik in Sichtweite geriet, hatte er krampfhaftes Seitenstechen.

Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte – vielleicht, dass sich Miss Gossamer nun ganz und gar in eine mumifizierte Katze verwandelt hatte und mit einer quietschenden Chelle im Maul durch die Straßen streifte. Stattdessen sah er unter einer Straßenlaterne Miss Gossamer und Chelle nebeneinander auf einer Bank sitzen. Chelle krümmte sich über ihrem Inhalator, und die Hand der alten Frau lag sanft und tröstend auf ihrer Schulter.

Ryan blieb stehen. Er war sich noch nie in seinem Leben so dumm vorgekommen. Miss Gossamer war kein Ungeheuer, und kein erwachsener Mensch – egal, wie aufgebracht er war – konnte wütend bleiben angesichts einer schüchternen Zwölfjährigen, die vor lauter Angst einen Asthmaanfall bekam. Sie redeten miteinander, beide hatten sich beruhigt, und er war so überflüssig wie immer.

«… und wenn ich eine Tochter gehabt hätte, wäre sie etwa im Alter deiner Mutter», sagte Miss Gossamer gerade. Ihre Worte fielen so leicht und trocken zu Boden wie dürres Laub. Ryan rührte sich nicht. Er hatte den Eindruck, mit der kleinsten Bewegung die Zartheit des Augenblicks zu zerstören und ihre Sätze unter seinen Turnschuhen zu zermalmen.

«Weißt du», fuhr Miss Gossamer fort, «ich kann manchmal sogar die Enkelin sehen, die ich hätte haben sollen. Etwa so alt wie du. Rotgoldenes Haar, wie meins, als ich jung war, und eine Stupsnase, wie meine Mutter. Und große graue Augen. Alle in meiner Familie haben graue Augen. Sie trägt grüne Seidenschuhe mit Schnüren. Wie meine alten Tanzschuhe – ich hätte extra für sie ein Paar gekauft. Sommersprossen auf der Stirn und den Händen, weil sie den ganzen Tag draußen in der Sonne spielt. Sie ist ein Sonnenschein.

Und wenn ich meine Augen öffnen würde, dann wäre sie neben mir, würde mit den Beinen baumeln und mich anlächeln. Das weiß ich genau. Aber dann mache ich die Augen auf, und sie ist nicht da.» Die Stimme der alten Frau veränderte sich und wurde zu einem bleiernen Blöken. «Nein, du bist da. Nicht mein wunderbares Mädchen, sondern du. Du, die kein Recht hat zu leben. Du sitzt auf ihrem Platz.»

Chelles Augen waren weit aufgerissen und ihre Hände, mit denen sie den Inhalator hielt, zitterten. Aus ihrer Kehle drangen verkrampfte Hickser, begleitet von einem anderen Geräusch, einem erschreckend unpersönlichen Röcheln. Nichts war vorbei. Niemand hatte sich beruhigt.

«Das Schlimme daran ist, dass deine Eltern so gute Menschen sind.



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